Freitag, 29. April 2016

Ortega y Gasset: Theorie Andalusiens

Der folgende Text ist wie so manch anderer aus der letzten Zeit nicht für die deutschen Vollhonks gedacht, mit denen ich hier ab und zu meine Sottisen treibe.
Wem also Bildung nicht als ein abschreckender oder fremdartiger Lebensentwurf erscheint, dem wird der Aufsatz von 1927 womöglich ein Gewinn sein und den Blick schärfen.
Der Verfasser, der Madrider Philosoph Ortega, ist in der Geschichte der sozial-politischen Philosophie nicht unumstritten. Manche halten ihn mit seiner liberalen, jedoch demokratie-kritischen Haltung für einen Wegbereiter der Falange Española, der Partei des Diktators Franco, die von Primo de Rivera gegründet wurde. Ich teile diese Meinung nicht vollständig, denn das Werk Ortegas scheint mir doch weit über diese damals aktuellen politischen Bezüge hinauszuweisen. (1)
Uns Heutigen, die wir Gäste im kontemporären Andalusien sind, wird sicher schnell klar, dass das Bild des Andalusiers, das Ortega zeichnet, mit dem heutigen Menschen hier nur noch zum Teil übereinstimmt. Ich erfahre AndalusierInnen als weitgehend moderne Menschen, die in einer globalisierten Welt angekommen sind, auch wenn die Lebensverhältnisse für viele sehr beschwerlich sind. Aber dieses traurige Schicksal teilen sie mit vielen SpanierInnen aus anderen Regionen und all den anderen Menschen, die weltweit Opfer des globalisierten und unkontrollierbar gewordenen Kapitalismus sind.

José Ortega y Gasset
THEORIE ANDALUSIENS
(Theoría de Andalucía)
veröffentlicht 1932
Entnommen aus
Stern und Unstern · Über Spanien
S. 37-56
Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart
1952

PROLOG

Während des ganzen 19. Jahrhunderts hat Spanien unter dem überwiegenden Einfluss Andalusiens gelebt. Das Jahrhundert beginnt mit den Cortes von Cádiz; es endet mit der Ermordung Cánovas des Castillo und der Nachfolgerschaft Silvelas, zweier Malaguener. Die herrschenden Ideen tragen andalusisches Gepräge. Man malt Andalusien -  ein flaches Sonnendach, den Patio mit Blumentöpfen, blauen Himmel. Man liest andalusische Dichter. Man redet beständig von dem Land Maria Sanctissimas. Der Räuber der Sierra Morena und der Schmuggler sind Nationalhelden. Ganz Spanien fühlt sein Dasein gerechtfertigt, weil es die Ehre hat, das andalusische Stücklein Erde einzuschließen. Dies ändert sich, wie so vieles, um 1900. Der Norden besinnt sich auf sich selbst. Es beginnt die Vorherrschaft der Katalanen, Asturier und Basken. Wissenschaft und Kunst des Südens verstummen; der Einfluß andalusischer Politiker nimmt ab. Der Cordobés weicht der Baskenmütze. Überall baut man baskische Chalets. Der Spanier ist stolz auf Barcelona, Bilbao, San Sebastián. Man spricht von baskischem Eisen, von den Ramblas, von asturischer Kohle.

Dies Pendeln des spanischen Gravitationszentrums zwischen den beiden Landeshälften verdiente nähere Beachtung; es wäre verlockend, den Verlauf seines Schwingungsrhythmus nach rückwärts zu verfolgen und zu erkunden, ob es ein periodisches Gesetz gibt, das unsere ganze Geschichte in nördliche und südliche Epochen zu gliedern gestattet.
Jedenfalls vermag ein scharfes Auge heute den Beginn eines Niedergangs im Norden der Halbinsel zu erkennen. Sei es, dass die Provinzen des Nordens ihre Spannkraft und den Glauben an sich selbst, an ihre besonderen Talente, ihren Lebensstil, ihre Tüchtigkeit verloren haben; sei es einfach, dass das gesamte Spanien mit nördlichen Einflüssen gesättigt ist. Wahrscheinlich trifft beides zu. Eine vage, aber unabweisbare Erfahrung lässt mich vermuten, dass die Lebenskraft jedes Individuums und jeder Gemeinschaft keine absolute Größe ist, die nur von ihm selbst abhängt, sondern eine Funktion der Lebenskräfte, die ringsum vorhanden sind. Danach könnte es mit einem Volk abwärts gehen, nicht weil es selbst versagt, sondern einfach durch die Tatsache, dass andere Völker in seiner Nähe aufsteigen. Und umgekehrt könnte eine Nation sich beleben, weil ihre Nachbarn ermatten. Wenigstens ist es augenblicklich auf wirtschaftlichem Gebiet klar, dass die relative Armut Kataloniens, der baskischen Provinzen und Asturiens mit dem Anwachsen des andalusischen Reichtums zusammenfällt. Noch liegen keine fassbaren Zeichen dafür vor, dass hiermit eine geistige und moralische Auferstehung verbunden wäre, und wir kommen der Wirklichkeit wohl am nächsten, wenn wir sagen, dass sich Spanien in diesem Augenblick im Gleichgewicht zwischen Norden und Süden befindet. Aber diese Unentschiedenheit wird kaum von sein. Sie stellt zweifellos eine Übergangsphase dar, die binnen kurzem entweder mit einem Zurückfallen auf den Norden oder mit einer neuen Begeisterung für Andalusien enden wird.
Es ist klar, dass ein solches Zurückgreifen auf Andalusien - gesetzt dass es eintritt - eine Vorstellung von andalusischem Wesen mit sich bringen muss, die von der unserer Väter und Großväter gründlich verschieden ist. Der „canto hondo“, die „Seguidilla“, die angebliche Fröhlichkeit des Andalusiers werden uns kaum noch einmal entzücken. Dieser ganze südliche Firlefanz langweilt und verstimmt uns.
Das wunderbare und tiefe Geheimnis Andalusiens liegt jenseits der bunten Posse, die seine Bewohner gutgläubigen Touristen vorspielen. Denn dem Andalusier gefällt es, im Unterschied zum Kastilier und Basken, sich dem Fremden als ein Schaustück darzubieten, und er geht darin so weit, dass sich der Reisende in einer so bedeutenden Stadt wie Sevilla dem Eindruck nicht entziehen kann, als wirkten alle ihre Bürger in der Rolle von Statisten bei der Aufführung eines an den Litfaßsäulen unter dem Titel „Sevilla“ angezeigten, prächtigen Balletts mit. Diese Neigung der Andalusier, sich darzustellen und Schauspieler ihrer selbst zu sein, verrät einen überraschenden Kollektivnarzißmus. Sich selber nachahmen kann nur, wer fähig ist, Zuschauer seiner eigenen Person zu sein; und dazu ist nur fähig, wer die Gewohnheit besitzt, sich selbst zu sehen und zu beobachten und sich am eigenen Bild und Wesen zu ergötzen.
Wenn dies oft die peinliche Wirkung hat, daß die Andalusier affektiert erscheinen, weil sie ihre eigene Art geflissentlich unterstreichen und gewissermaßen zweimal sie selbst sind, so zeigt es andererseits, dass sie zu den Rassen gehören, die sich selbst am besten kennen und durchschauen. Vielleicht gibt es keine zweite, die ein so klares Bewusstsein ihres eigenen Charakters und Stils besitzt. Dank diesem Umstand hat der Andalusier es leicht, sich unwandelbar in den Grenzen seines tausendjährigen Wesens zu halten und, seinem Schicksal getreu, seine ureigene Kultur zu schaffen.
Eine unentbehrliche Tatsache für das Verständnis der andalusischen Seele ist ihr Alter. Man vergesse nicht: die Andalusier sind vielleicht das älteste Mittelmeervolk, älter als Griechen und Römer. Es mehren sich die Anzeichen, daß, ehe der Wind der historischen Einflüsse von Ägypten und allgemein vom östlichen gegen das westliche Mittelmeerbecken blies, eine Periode entgegengesetzter Luftrichtungen geherrscht hatte. Eine Kulturströmung, die älteste, von der wir Kunde haben, ging von unseren Küsten aus, glitt an der Stirnseite Libyens hinunter und gelangte bis in den Orient.



Man bedenke wohl, wenn man die kokette, fast weiblich anmutende Gebärde des Andalusiers sieht, dass sie viele Jahrtausende lang so gut wie unverändert wiederholt worden ist, daß diese leichte Anmut der furchtbaren Brandung der Zeit und den Zuckungen historischer Katastrophen unverletzt widerstanden hat. So betrachtet, verwandelt sich das zierliche Gestenspiel des Andalusiers in ein dunkles und geheimnisvolles Zeichen, das schaudern macht. Ein Eindruck ähnlich jenem, den das rätselhafte Lächeln des Chinesen weckt — welch sonderbare Übereinstimmung! —, des andern hochbetagten Volkes, das am äußersten Ostrand des eurasischen Festlandes sitzt. Dies plötzliche Auftauchen Chinas in dem Prolog zu einem Aufsatz über Andalusien darf den Leser nicht gar zu sehr befremden. Wenn er Andalusier ist, verhalte er seinen Ärger einen Augenblick und gebe mir Frist, meine Parallele zu rechtfertigen. Der Vergleich ist das unentbehrliche Hilfsmittel zum Verständnis. Er dient uns als Pinzette zum Ergreifen jeder feinen Wahrheit, die umso feiner, ist, je verschiedenartiger die beiden Zangenarme, das heißt die Glieder des Gleichnisses sind. Auch fürchte man nicht, dass diese kühne Zusammenstellung sich darauf beruft, dass der Torero wie der Mandarin einen Zopf trage. Der Zopf des Mandarinen ist nicht chinesisch und der des Torero nicht spanisch, sondern französisch. Andalusien, das nie Unabhängigkeitsgelüste zeigte, das nie ein selbständiger Staat zu sein beanspruchte, besitzt von allen spanischen Ländern die ausgeprägteste Sonderkultur. Wir wollen Kultur so definieren, wie es uns am verständlichsten scheint: als einen Inbegriff von Haltungen zum Leben, die sinnvoll, einstimmig und praktisch wirksam sind. Das Leben ist vor allem eine Gesamtheit wesentlicher Probleme, und der Mensch antwortet darauf mit einer Gesamtheit von Lösungen: der Kultur. Da viele solche Lösungssysteme möglich sind, gab und gibt es viele Kulturen. Nur eines hat es niemals gegeben: eine absolute Kultur, das heißt eine Kultur, die jedem Einwand siegreich standhält. Die Kulturen, die wir in der Gegenwart und Vergangenheit vorfinden, sind mehr oder weniger unvollkommen; es ist möglich, eine Rangordnung unter ihnen zu stiften, aber keine ist völlig frei von Fehlern und Vorurteilen. Die eine und eigentliche Kultur ist nur ein Ideal und ließe sich definieren, wie Aristoteles die Metaphysik oder eigentliche Wissenschaft definiert; er nennt sie „die, welche gesucht wird“. Es ist kein Zufall, wenn es jeder positiven Kultur nur dadurch gelingt, eine gewisse Anzahl lebenswichtiger Fragen zu lösen, dass sie die übrigen fallen lässt und aufgibt. So macht sie aus dem Mangel eine Tugend; und hat sie etwas oder viel erreicht, so war es, weil sie ihren fragmentarischen Charakter wohlgemut hinnahm. Wir werden noch sehen, wie die andalusische Kultur von einer heldenhaften Amputation lebt, eben davon, dass sie dem Leben das Heldentum amputiert — ein weiterer Zug, worin sie mit der chinesischen übereinstimmt. Beide haben eine gemeinsame Wurzel, was in diesem Fall durchaus nicht metaphorisch gemeint ist, denn die Wurzel ist, wie alle echten Wurzeln, in die Erde eingesenkt, in den Acker; sie sind Ackerbaukulturen. Wenn man durch Kastilien fährt, bleibt der Blick immer wieder an dem Bauer hängen, der sein Feld bestellt — über die Furche gekrümmt, sein Gespann vor sich, das auf dem Rund des Horizontes riesenhafte Maße annimmt. Dennoch ist die gegenwärtige kastilische Kultur keine bäuerliche Kultur; sie ist nur Bodenbestellung, das, was in einem Land immer übrigbleibt, wenn die wahrhafte Kultur daraus verschwindet. Kastiliens Kultur war kriegerisch. Der Krieger lebt auf dem Lande, aber er lebt nicht vom Lande, nicht materiell und nicht geistig. Das Feld ist für ihn Schlachtfeld; er steckt die Ernte des friedlichen Landmanns in Brand oder requiriert sie für seine Soldaten und Pferde. Die Burg, die am Felsen hängt, ist nicht wie das Gehöft eine Stelle zum Verweilen, sondern, gleich dem Adlerhorst, Aufbruchsort zur Jagd und Schutzstätte für den Müden, Das Leben des Kriegers ist nicht sesshaft, sondern beweglich, schweifend, unstet seinem Wesen nach. Er verachtet den Bauern und betrachtet ihn als ein untergeordnetes Wesen, gerade weil er sich nicht bewegt, weil er bleibt, manet — wovon das französische „manant“ —, weil er dem Dorf verhaftet ist, ein „Dörfler“. Der herabsetzende Sinn beider Worte ist gleichsam der Niederschlag einer Geringschätzung; er misst die Gegensätzlichkeit zweier Kulturen, die beide auf dem Lande vorkommen, aber inverses Vorzeichen tragen: der kriegerischen und der bäuerlichen. Als der Krieger Kastilien verließ, blieb nur die minderwertige Masse zurück, die den Unterbau seines Lebens gebildet hatte, der ewige Feldarbeiter ohne Eigenprägung und Stil, der überall derselbe ist.
Aus dieser Gegenüberstellung geht mit einiger Klarheit der positive und schöpferische Sinn hervor, den ich dem Worte gebe, wenn ich von der andalusischen Kultur sage, dass sie ländlich, bäuerlich ist. Ihre Eigentümlichkeit besteht nicht darin, dass der Mensch das Feld bestellt, sondern dass er die Kultur des Feldes zum gestaltenden Prinzip für die Kultur des Menschen macht. In Andalusien hat man, umgekehrt wie in Kastilien, den Krieger immer verachtet und den Bauern geschätzt, den „manant“, den Herrn des Hofes. Genau wie in China, wo Jahrtausende hindurch der Soldat, einfach weil er Soldat war, als ein Mensch zweiter Klasse betrachtet wurde. Während im Abendland das Schwert des Herrschers das höchste Symbol des Staates war, verehrte man in China den friedlichen Fächer des Kaisers als das Insignium der Nation. Die Geringachtung des Krieges ist die Ursache dafür, dass Andalusien so wenig in die blutige Geschichte der Welt eingegriffen hat. Dieser Zug des andalusischen Wesens ist so tief verankert und dauernd, dass man ihn, da er allzu offen war, niemals beachtet hat. Welche Rolle hat Andalusien in der Kriegs- und Eroberungsgeschichte gespielt? Dieselbe wie China. Alle drei- bis vierhundert Jahre brechen die kriegerischen Horden der rauen asiatischen Steppe in China ein. Sie überrennen das Volk der hundert Familiennamen, das ihnen kaum oder gar nicht widersteht. Die Chinesen haben sich von jedem erobern lassen, dem es beliebte. Dem harten Angriff begegnen sie mit ihrer Weichheit; ihre Taktik ist die Taktik des Kissens: sie geben nach. So findet der wilde Eindringling keinen Widerstand, dem er seine Kraft entgegenstemmen kann, und versinkt von selbst in das Kissen — in die wunderbare Sanftheit des chinesischen Lebens. Das Ergebnis ist, dass der ungestüme Mandschu oder Mongole nach zwei bis drei Generationen von der milden, alten, verfeinerten Lebensart des Chinesen bezwungen das Schwert fortwirft und den Fächer ergreift. Auf eben diese Art ist Andalusien in die Gewalt aller kampflustigen Mittelmeervölker gefallen, und das immer in vierundzwanzig Stunden sozusagen und ohne den Versuch eines Widerstands. Auch seine Taktik war nachgeben und weich sein. So berauschte es mit seiner Süßigkeit zuletzt immer den rauen Mut der Eindringlinge. Die baetische Olive ist das Symbol des Friedens als Anfang und Normalzustand der Kultur.




Das vegetative Ideal


Der Andalusier lebt in einem üppigen Land, das bei geringer Mühe herrliche Früchte trägt. Überdies ist das Klima so milde, dass der Mensch von diesen Früchten sehr wenig braucht, um sein Dasein zu fristen — erlebt wie die Pflanze, die sich auch nur zum Teil von der Erde nährt und den Rest von der warmen Luft und dem wohltätigen Licht empfängt.

(Die andere große Ackerbaukultur, die es gegeben hat, die des alten Ägypten, ist ein Gegenstück zu China und Andalusien. Die Eroberungen der Tutmes und Ramses wurden mit ausländischen Soldaten gemacht.)

Wollte der Andalusier mehr als das nackte Leben, stünde ihm der Sinn auf Wagnis und kraftvolles Handeln, so müsste er, auch wenn er in Andalusien lebte, besser essen, und das verlangte einen größeren Kraftaufwand von ihm. Aber damit wäre dem Dasein eine Lösung gegeben, die der andalusischen stracks entgegenläuft. Solange wir glauben, alles über den Andalusier gesagt zu haben, wenn wir ihn des Müßiggangs zeihen, sind wir unwürdig, in die subtilen Geheimnisse seiner Seele und Kultur einzudringen. „Müßiggang“ ist rasch gesagt, wenn es auch ein langes Wort ist. Aber der Andalusier hat an die viertausend Jahre gefaulenzt, und er befindet sich nicht schlecht dabei. Anstatt diese Tatsache mit pedantischer Schulmeistergebärde zu behandeln und einem uralten Volk das Prädikat „faul“ zu geben wie eine Zeugnisnote, sollten wir lieber die Augen aufmachen und den Geist schärfen, um es recht zu verstehen. Wir laufen sonst Gefahr, unversehens die Faulheit zu preisen, da sie ja diese linde Stetigkeit des andalusischen Lebens ermöglicht hat. Die berühmte Trägheit des Andalusiers ist die Form und Formel seiner Kultur. Kultur bedeutet, wie ich schon sagte, nichts anderes als die Aufstellung einer Gleichung, mit der wir das Problem des Lebens zu lösen suchen. Aber das Problem des Lebens kann auf zwei verschiedene Arten gestellt werden. Wenn wir dem Leben ein Maximum an Intensität geben wollen, wird die Gleichung einen maximalen Kraftaufwand von uns verlangen. Aber beschränken wir von vornherein das vitale

Die Trägheit des Andalusiers

Problem, streben wir nach einer „vita minima“, so werden wir mit kleinster Mühe zu einer Lösung gelangen, die derjenigen des unternehmenderen Volkes an Vollkommenheit nicht nachsteht. Das ist der Fall des Andalusiers. Seine Lösung ist tief und kühn. Statt das „Haben“ zu erhöhen, setzt er das „Soll“ herab; anstatt sich anzustrengen, um zu leben, lebt er, um sich nicht anzustrengen, und macht aus der Vermeidung der Anstrengung das Prinzip seines Daseins.
Es wäre also ein Irrtum, ohne weiteres anzunehmen, dass der Sevillaner auf das Leben eines Engländers der City verzichtet, weil er unfähig ist, so viel zu arbeiten wie dieser. Er würde eine solche Lebensweise, selbst wenn sie ihm ohne Arbeit als das Geschenk einer Fee in den Schoß fiele, mit Entsetzen zurückweisen. Die Faulheit mag bei dem Andalusier auch ein Fehler und ein Laster sein; aber in erster Linie ist sie nicht Fehler und Laster, sondern nichts Geringeres als sein Lebensideal. Das ist das Paradoxon, das jeder wohl erwägen sollte, der Anspruch darauf macht, Andalusien zu verstehen: die Faulheit als Ideal und als Kulturstil. Übrigens können wir ungescheut statt Faulheit „geringste Anstrengung“ sagen; die Idee bleibt dieselbe, nur gewinnt sie ein etwas ehrwürdigeres Aussehen. Wir Heutigen kommen von einer historischen Epoche her, die mehr als irgendeine andere aus der „größten Anstrengung“ ein Lebensideal gemacht hat, und es wird uns schwer, eine vitale Haltung zu begreifen, die der unsrigen so entgegengesetzt ist. Wir deuten Faulheit von vornherein als eine bloße Verneinung, ein Nichtstun. Aber übertreiben wir die Trägheit der Andalusier nicht! Schließlich müssen sie doch immer alles Nötige getan haben, da Andalusien ja existiert; und ihre Lässigkeit schließt die Arbeit nicht völlig aus; sie ist eher die Weise und der Sinn ihrer Art zu arbeiten. Es ist eine Arbeit, die von der Faulheit eingegeben und auf Faulheit gerichtet ist, die darum gern in jeder Beziehung möglichst klein sein möchte, als schäme sie sich ihrer selbst. Dieser Zug tritt besonders klar hervor, wenn wir an den anspruchsvollen, zur Schau getragenen, maßlosen Fleiß jener Völker denken, die aus der Arbeit ihr Ideal machen. Schließlich ist, wie Friedrich Schlegel sagte, die Faulheit das letzte Gut, das uns vom Paradies übriggeblieben ist, und Andalusien also das einzige Volk des Abendlands, das treu zu einem paradiesischen Lebensideal steht. Eine solche Treue wäre unmöglich gewesen, wenn die Landschaft, in welcher der Andalusier behaust ist, diesen Daseinsstil nicht erleichtert hätte. Aber man falle nicht in die triviale Erklärung zurück, wonach eine Kultur als zwangsläufiger Ausfluss der Umwelt begriffen wird.
Auf den Nordländer wirkt das Licht und die Farbenschönheit der andalusischen Landschaft wie ein heftiger Reiz, der ihn zu Tollheiten treibt1.

(Chateaubriand erzählt, „die hunderttausend Söhne des heiligen Ludwig“ seien, als sie von der Passhöhe der Sierra Morena plötzlich die Gefilde Andalusiens vor sich sahen, von dem Schauspiel so ergriffen worden, dass die Bataillone vor dem wunderbaren Land spontan das Gewehr präsentierten.)






Das paradiesische Lebensideal

Darum nimmt er an, dass die Andalusier auch toll wären, wenn die Trägheit sie nicht lähmte. Er macht sich von ihnen das Bild eines lebensprühenden Volkes, und sieht er die Sevillanerin vorübergehen mit ihren nachtdunklen Augen, so ahnt er eine unerhörte Glut und wunderbare Leidenschaften in ihrer Seele. Er irrt sich gründlich. Ihm entgeht, dass der Andalusier die Vorteile seines Mediums im umgekehrten Sinn ausnützt. Das andalusische Volk besitzt ein Minimum an Vitalität, gerade so viel wie ihm von selbst aus der durchsonnten Luft und der fruchtbaren Erde zuwächst. Es verhält sich zu seiner Umwelt so passiv wie möglich und lebt wie eine Pflanze, eingebettet in die wunderbare Atmosphäre seines Landes. Das Leben im Paradies ist vegetatives Leben. Paradies heißt Garten. Und das Dasein der Pflanze ist von dem tierischen dadurch unterschieden, dass sie nicht selbsttätig in ihre Umwelt eingreift. Mit ihren Wurzeln empfängt sie die Nahrung der Erde, mit ihren Blättern trinkt sie Sonne und Wind. Leben heißt für sie, von außen ihren Unterhalt empfangen und im Empfangen beglückt sein. Für die kleine grüne Blatthand ist die Sonne Nahrung und Liebkosung zugleich. Für das Tier dagegen fallen Ernährung und Genuss auseinander. Es muss sich anstrengen, um seine Nahrung zu erlangen, und sich dann vermittels anderer Funktionen seine Freuden suchen. Je weiter wir nach Norden gehen, umso tiefer wird die Kluft zwischen diesen beiden Seiten des Lebens. Nun wohl, dem Andalusier erscheint an dem Engländer oder Deutschen die Art der Arbeit ebenso hirnverbrannt wie die der Zerstreuung, beides ohne Maß und eines vom andern losgerissen. Er für sein Teil zieht es vor, wenig zu arbeiten und sich mäßig zu vergnügen, aber beides zugleich, beide Tätigkeiten verschmolzen zu einer einzigen Geste des Lebens, die sanft dahinfließt, ohne Pausen und ohne Erschütterungen, ein unendliches Adagio cantabile. In Andalusien strömt gewissermaßen der Feiertag, der Sonntag, auf den Rest der Woche über und erfüllt die Arbeitstage mit Festlichkeit und goldener Ruhe. Aber umgekehrt ist auch das Fest weniger ausschließlich und ausschweifend, der Sonntag weniger unterschieden von dem Werktag als bei den nördlichen Rassen. Ausschweifend ist Sevilla nur für hyperboreische Fremdlinge; für die Eingeborenen ist das Leben immer ein wenig Feiertag und niemals ganz.
Wenn unser Auge sich auf Andalusien richtet, ist es geblendet und glaubt ein Bild trunkener Lebenslust zu sehen. Aber warten wir ein wenig, bis dieser oberflächliche Eindruck vorübergeht! Dann werden wir entdecken, dass dem andalusischen Leben jede Trunkenheit fernliegt und dass es mit einer feinen Trockenheit bemüht ist, Schmerz wie Lust um einen Ton herabzustimmen. Was dem Andalusier wichtig scheint, ist gerade das Tägliche des Lebens, die Kette stiller, einfacher Freuden, die vollkommen gleichmäßig ohne Höhen und Tiefen das ganze Leben durchziehen können. Im Paradies ist kein Platz für heftige, leidenschaftlich auf kurze Augenblicke zusammengedrängte Genüsse, denen Stunden der Leere oder Reue folgen. Die Pflanze, dies Stück

Der Andalusier lebt mit der Haut

Paradies, genießt mäßig, aber ohne Unterbrechungen: sie genießt es, ihr Laub dem Strahlenbad der Sonne darzubieten, ihre Zweige im sanften Wind zu wiegen, ihre Gewebe am Regen zu erquicken. Nun wohl, wenn es dem Nordländer auch unglaublich erscheint, es gibt in diesem Winkel des Planeten Tausende von Menschen, denen der Genuss eines milden Himmels das süßeste Labsal ist. Es ist unbeschreiblich, wie viel Glück der Andalusier aus seinem Klima, seinem Himmel, seinen blauen Morgenfrühen, seinen goldenen Dämmerungen zieht. Seine Freuden sind nicht innerlich, nicht geistig und nicht auf überlieferte Kulturgüter gegründet. Von diesem allen, das der Zeitgeist ihm aufdrängt, hat er sich nur das Unumgängliche zu eigen gemacht. Aber die Wurzeln seines Wesens ruhen weiter in jener elementaren, tiefen und dauernden Beglücktet durch die kosmische Schönheit. Der Andalusier hat ein pflanzenhaftes Gefühl für das Dasein; er lebt hauptsächlich mit der Haut. Gut und Böse sind für ihn in erster Linie kutane Werte; gut ist das Sanfte, schlecht das, was rau anrührt. In der Atmosphäre zu leben, ist sein wahrhaftes, ewiges Fest; sie durchdringt sein ganzes Wesen, gibt allem, was er tut, einen leichten, warmen Reiz und ist gewissermaßen das liebliche Urbild seines Betragens. Der Andalusier möchte seine Kultur nach dem Bild seiner Atmosphäre formen

(Ich hoffe, man versteht mich recht. Ich mache dem Andalusier nicht den törichten Vorwurf, dass er nur vegetiert. Ich meine, dass seine Kultur — und daher seine geistige Aktivität — die vegetative Seite des Daseins steigert und verschönt. Daher, außer vielen andern Einzelzügen, die zärtliche Freundschaft des Andalusiers mit der Pflanze, der Nutz- und Zierpflanze, der Rebe und der Blume. Er pflegt die Olive, aber auch den Blumentopf. Sozialistische Empfindsamkeit hat wieder und wieder darauf hingewiesen, dass der andalusische Landarbeiter fast nichts isst und dass seine Nahrung aus trockenem Brot und Zwiebeln besteht. Die Tatsache ist unbestreitbar, aber die Beobachtung ist doch falsch, weil sie unvollständig ist. Man kommt der Wahrheit näher, wenn man hinzufügt, dass in Andalusien alle Leute schlecht essen, nicht nur die Armen. Die andalusische Küche ist die ungepflegteste, primitivste und kärglichste der ganzen Halbinsel. Ein baskischer Tagelöhner isst mehr und besser als ein steinreicher Mann in Córdoba oder Jaén. Selbst hierin ahmt der Andalusier die Pflanze nach: er nährt sich, ohne zu essen; er lebt, weil ihn Himmel und Erde umfangen. — Ebenso der Chinese.)

Dies Volk ist in anderer und wesentlicherer Form als Völker sonst auf seine Erde bezogen und ihr verhaftet. Andalusisch ist für den Andalusier in erster Linie das Land und die Luft Andalusiens. Die andalusische Rasse, der andalusische Mensch, kommt erst hinterher; er betrachtet sich selbst als zweiten Faktor, als bloßen Nutznießer des herrlichen Landes, und in diesem Sinn, nicht wegen besonderer menschlicher Eigenschaften, hält er sich für ein auserwähltes Volk. Jeder Andalusier hat die liebenswürdige Überzeugung, dass es ein tolles Glück ist, Andalusier zu sein. Wie die Juden sich eine Sonderstellung unter den Völkern zuschrieben, weil ihnen von Gott ein Land des Überflusses verheißen war, weiß sich der Andalusier begnadet, weil Gott ihn ohne vorherige Ver-


Die Liebe des Andalusiers zu seinem Land

 heißung auf das schönste Stück Erde gesetzt hat. Gegenüber dem Volk mit dem gelobten ist er das Volk mit dem geschenkten Land, der Sohn Adams, dem das Paradies zurückgegeben ist. Wir müssen bei dieser eigenartigen Liebe des Andalusiers für sein Land verweilen, denn sie ist der wesentlichste Zug der andalusischen Seele. Jetzt wird der positive Sinn klar, der in meiner Charakterisierung der andalusischen Kultur als einer bäuerlichen Kultur enthalten ist. Die Verbundenheit des Menschen mit der Erde erscheint idealisiert zu einem geistigen Verhältnis und fast zu einem Mythos. Er lebt von seinem Boden nicht nur im materiellen Sinn wie alle anderen Völker, sondern er lebt von ihm wie von einer Idee, ja von einem Ideal. Der Galicier ist traurig und sehnsüchtig in der Fremde, der Asturier und der Baske haben Heimweh nach ihren engen, dampfenden Tälern. Aber ihr Zusammenhang mit der mütterlichen Erde ist blind, gleichsam physisch, ohne geistigen Sinn. Der Andalusier dagegen mag fern der Heimat diesen mechanischen Widerhall des Gefühls nicht verspüren, aber das Leben in Andalusien bedeutet für ihn das Ideal, das bewusste Ideal. Und umgekehrt, während ein Galicier Galicier bleibt, auch außerhalb Galicias, hört der verpflanzte Andalusier auf, Andalusier zu sein; seine Eigenart verwischt sich und verschwindet. Denn Andalusier sein, heißt soviel wie zusammenleben mit der andalusischen Erde, sich auftun für ihre kosmische Schönheit und für die Eingebungen ihrer besonderen Atmosphäre.

Dies Ideal — die andalusische Erde als Ideal — kommt uns nördlichen Menschen allzu einfach und primitiv vor. Zugegeben! Aber es ist so grundlegend und elementar, so viel ursprünglicher als alles andere, daß der Rest des Lebens, wenn er auf diesem Grunde steht, von vornherein eine ideelle Prägung erhält. Daher hat das ganze andalusische Dasein, besonders die schlichtesten und alltäglichsten Verrichtungen, die bei andern Völkern so hässlich und unvergeistigt sind, jene wunderbare idealische Haltung, die ihm Stil und Anmut gibt. Wenn der Wert anderer Völker in den oberen Stockwerken ihres Lebens liegt, ist bei dem Andalusier das Erdgeschoß bezaubernd, alles das, was immerzu gesagt und getan wird, die absichtslose Gebärde, der selbstverständliche Brauch. Aber es gilt auch das Umgekehrte: dies Volk, bei dem die vegetative Grundlage des Daseins idealisierter ist als bei irgendeinem andern, besitzt sonst fast keine Ideale; ich wusste niemanden, der außerhalb des täglichen Lebens so wenig Idealist ist wie der Andalusier.

(1)Geinitz, Frank-Peter: Die Falange Española und ihr Gründer José Antonio Primo de Rivera (1903-1936)- im Rahmen der Bewältigung derVergangenheit der Zweiten Spanischen Republik (1931-1939) , Dissertation an der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München

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